»Glück zu verschenken ist eine Tugend,
Glück zu erhalten eine Verantwortung;
Und findet das Glück allein seinen Weg,
so wird sein Bote das Schicksal sein.«
Die Vorgeschichte von Die Schicksalsseherin – wie sich Myriel und Seith einst trafen – als Teil der Anthologie Wintersaga hoch 4.
»Weiße Flocken fielen aus dem Himmel auf die Erde, bedeckten sie still und leise, und verwandelten die Welt in ein Wintermärchen«, flüsterte ich im Halbdunkeln. Mit den Fingern strich ich zärtlich über die viel gelesene Buchseite. »Rose zog den Schal enger, ehe sie das Café verließ. Sie wusste, dass es spät war und die Chance, Wyatt noch zu erwischen, bevor er in den letzten Zug stieg, gering war. Aber sie musste es versuchen. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen und ihm nur ein einziges Mal die ganze Wahrheit sagen.«
Ich sog die Luft scharf ein, als ich mir vorstellte, mit nackten Füßen im kalten Schnee zum Bahnhof zu rennen. Bisher hatte ich ihn zwar nie gespürt, aber ich hatte davon gelesen, wie es sich anfühlen mochte.
Flüsterleises Kichern drang an mein Ohr, als ich in der fünften Etage aus dem Blattwerk stieg. Ich ahnte, dass Vater erwartete, dass ich pünktlich bei der Verhandlung war, zumal ich nicht genau wusste, wann die Abstimmung angesetzt war, die ich für ihn leiten sollte. Aber diese Stimme war so verführerisch, dass ich dennoch in einen anderen Gang einbog und sofort von zwei schlanken Armen begrüßt wurde, die sich um meinen Hals legten. Leidenschaftlich küssend drängte mich die Koboldin mit dem feuerroten Haar an die Wand und schob ihre Hände gierig in den Bund meiner Hose.
»Ich hatte gehofft, dass du heute hier sein würdest«, hauchte sie und biss mir im nächsten Augenblick freudig erregt ins Ohr. Sie wusste genau, dass mich diese sanfte Berührung sofort aufwühlte, spielte weiter mit ihrer spitzen Zunge darin. »Lass mich dich entführen, nur für einen kleinen Moment«, flüsterte sie, drückte sich verlangend gegen meine bereits harte Begierde. »Ich. Werde. Dir. Viel. Freude. Schenken.«
Ich weigerte mich, zu kämpfen, mit dem armen Wesen zu verbinden und es womöglich meinetwegen zu verletzen. Willensstark hob ich den Blick, begegnete dem Langschwert mit einem traurigen Lächeln und hatte nur einen einzigen Wunsch – dass alles schnell vorbeigehen und mich davon befreien würde.
»MYRIEL!«, kreischte Mueele entsetzt, doch sie hatte nicht die Kraft, den Angriff zurückzunehmen.
Hoffnungsvoll schloss ich die Augen und machte mich auf einen heftigen Schmerz gefasst, der alles je dagewesene in den Schatten stellen sollte. Ich wollte fühlen, was sie empfanden, wenn ihnen das Leben entwich, und das nur, weil meine Familie jenem Leben so wenig Wert zugestand.
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